Conatct Improvisation & Wandel

Texte von Heike Pourian

Als Menschheit stehen wir im Moment an einem Punkt, an dem die Sehnsucht nach einem tiefgreifenden Wandel spürbar wird. Wir wissen aber noch nicht so recht, wie dieser Wandel zu bewerkstelligen ist. Eigentlich muss ein Wunder geschehen.

Die zeitgenössische Tanzform Contact Improvisation erforscht den Zustand des Nichtwissens, lässt uns Verbundenheit erleben und verlangt uns die Bereitschaft ab, berührbar zu sein. All das – und noch viel mehr – kann uns in diesem großen Veränderungsprozess als Übungsraum, Spielwiese und Experimentierfeld dienen. Das Wunder könnte tatsächlich eine Frage der Übung sein: In einem geschützten und bewussten Rahmen experimentieren wir mit neuen Formen menschlichen Miteinanders und erleben etwas anderes als das Gewohnte als wahr; wir betreten einen Möglichkeitsraum.

Wohin wir dabei gelangen, können wir nicht vorher wissen. Die Lösung für die Krise der Menschheit wird sich uns kaum allein durch Denken eröffnen. Neue Wahrheiten wollen wahrgenommen werden – mit allen Sinnen. Es ist wohl eine Reise in ein Land, das beim Reisen entsteht. In den Dienst dieser Reise möchte ich meine Arbeit stellen.

Ich kenne deinen Namen nicht, habe dich nie zuvor gesehen – und doch lasse ich gerade meine Stirn über dein Schulterblatt rollen, gleich darauf streift dein Fuß meinen Ellbogen. Ein kurzer Blickkontakt, dann kippst du in meine Richtung und ich stelle dir meine Flanke zum Landen zur Verfügung. Wir lehnen aneinander und sinken gemeinsam zu Boden, du rollst über mich, wir nutzen den entstehenden Auftrieb, um wieder auf die Füße zu kommen, laufen nebeneinander her, dann springe ich dir auf die Schulter und gleite kopfüber an dir herunter, jetzt hänge ich quer über deinem Becken und wir lauschen auf den nächsten Bewegungsimpuls, dem wir uns anvertrauen – ganz langsam und zart, bevor uns die nächste dynamische Welle ergreift.

Was ist Contact Improvisation?

Es gibt keine offizielle Definition für die Contact Improvisation. Es gibt auch kein Trademark, kein Zertifikat, das Menschen zum Unterrichten befähigt, keinen Zentralverband. Contact Improvisation ist ein offenes lebendiges System, zu dessen Weiterentwicklung alle beitragen können, die sich ihr widmen: tanzend, unterrichtend, forschend, reflektierend.

Die Essenz lässt sich schwer in Worte fassen, sie will erlebt werden. Wenn ich hier versuche, mit Worten (meinen eigenen und denen anderer) ein Bild davon entstehen zu lassen, nähere ich mich am besten von ganz verschiedenen Seiten:

„Contact Improvisation ist Bewegungsstudium durch Bewusstheit und Bewusstheitsstudium durch Bewegung.“
Curt Sidall

„Ich frage mich, ob die Worte, um Contact Improvisation auf den Punkt zu bringen, überhaupt existieren.“
Steve Paxton

Contact Improvisation ist eine Spielart des zeitgenössischen Tanzes, die aus der politisch-künstlerischen Avantgarde der späten sechziger frühen siebziger Jahre heraus entstanden ist. Sie gibt keine feste Form vor, sondern stellt hohe Anforderungen an die Gegenwärtigkeit der Tanzenden. Bewegung entsteht aus dem Spiel mit Begegnung, ein Zustand aktiven Wahrnehmens weist uns den Weg, während wir die Möglichkeiten menschlicher Begegnung erforschen. Das ursprüngliche Anliegen, nämlich die Befreiung der Tänzer*innen vom Diktat der Choreograph*innen und die radikale Neudefinition von Tanz durch eigenes Forschen, ist nicht zu verkennen und wohnt heute noch in jeder Faser unserer Tänze: Wir sind – im besten Falle – die Schöpfer*innen unserer Bewegungen im bewussten Zusammenspiel mit all den Kräften, die auf uns wirken, und im Dialog mit den anderen Menschen im Raum.

„Contact ist eine Berührungsrevolution. Es ist eine Revolution gegen die Tyrannei der Nicht-Berührung. Es ist eine Politik der Bewegung von innen nach außen, die sich organisiert, um mit der Selbstverständlichkeit zu brechen, dass es immer Raum und Abstand zwischen Menschen geben muss. […] Abwehrmechanismen fallen von uns ab. Wir öffnen uns. Wir transformieren Hass und Angst. Wir ergreifen intuitive Maßnahmen.
Karen Nelson

 

„Ich bin dazu übergegangen, CI als körperliches Ereignis zu betrachten, das am besten über die Negation beschrieben wird. Nicht Kunst, nicht Sport, das allermeiste nicht, was in diesem Jahrhundert Tanz charakterisiert.“
Steve Paxton

„Contact Improvisation ist ein ergebnisoffenes Erkunden der kinästhetischen Möglichkeiten von Körpern, die sich durch Kontakt bewegen. Manchmal wild und athletisch, manchmal still und meditativ, ist es eine Form, die offen ist für alle Körper und forschenden Geister.“
Ray Chung

Der Beginn war Avantgarde. Contact Improvisation konnte entstehen, weil sich Anfang der sechziger Jahre in New York eine Gruppe junger Tänzer*innen und anderer experimenteller Künstler*innen zusammen getan hatte, um gemeinsam den Tanz als Kunstform neu zu definieren.

Was bleibt übrig, wenn man auf Dekoration, Effekt, technische Raffinesse und auf einen klar definierten Bühnenraum verzichtet? Was passiert, wenn Tanz nichts mehr bedeuten muss, sondern wenn Bewegung pur, für sich und um ihrer selbst willen geschieht? Der Bruch mit den Selbstverständlichkeiten betraf neben dem Bewegungsvokabular auch Hierarchien in den Ensembles, Geschlechterrollen, Aufführungsorte. Es ging um eine Demokratisierung des Tanzes.

Warum sollte ein*e Choreograph*in den Tänzer*innen sagen, was sie zu tun haben? Der entscheidende Schritt zur Selbstermächtigung jede*r Tänzer*in war getan: Improvisation ermächtigt alle Tanzenden, Eigenes entstehen zu lassen. Warum sollte das nur auf der Grundlage von Musik entstehen können? Und warum muss es einen Unterschied zwischen Alltagsbewegungen und Tanz geben? Wenn die Zuschauer*innen einer Performance (auch) Bewegungen sehen, die sie kennen und ausführen können, schwindet die Distanz zu den Tänzer*innen. Das Publikum wird gewissermaßen zum Teil dessen, was es bezeugt und wird nicht aufs Bewundern reduziert. In diesem Geist entstand die Contact Improvisation.

Die Forschungsfrage der Performance Magnesium (1972), die als Geburtsstunde der CI gilt, war: Was passiert, wenn zwei Körper aufeinander treffen? Und das war eine in erster Linie physikalische Versuchsanordnung. Angelehnt an Newtons Gesetze der Mechanik fragten die Pionier*innen : „How does it feel to be the apple?“, gemeint ist: Wie fühlt es sich an, ein Körper zu sein, auf den Kräfte wirken?

Die Atmosphäre in diesen frühen Jahren war eine ernsthafte und sehr disziplinierte: immer diesem Zustand von Wachheit auf der Spur, der die direkte Ebene der Reflexe zugänglich und nutzbar macht und den planenden und urteilenden Geist umschifft. Die große Intimität, die beim Anspringen, Auffangen und Übereinanderrollen entstand, war auch für die Pionier*innen eine große Herausforderung und brachte sie an Grenzen von Scham und gesellschaftlichen Konventionen. Die Lösung bestand zunächst in einer strikten Trennung: Diese Intimität hat nichts mit Flirten und Sexualität zu tun. Es geht um die Physikalität von Bewegung.

Zu Beginn waren es ausschließlich athletisch geschulte Profis, die es sich zur Aufgabe machten, all diese Themen im Kollektiv zu erforschen. Zu den daraus entstandenen Performances luden sie z.B. unter dem Titel You come and we show you what we do ein – woraus sehr deutlich hervorgeht, dass der Prozess entscheidender war als das „Ergebnis“.

Was das Publikum zu sehen bekam, machte neugierig, der Geist sprang über. Menschen bekamen Lust, das selber zu erleben, wobei sie anderen begeistert und berührt zugesehen hatten. Dadurch wurde die zunächst programmatische Aufhebung der Distanz zum Publikum Wirklichkeit: Mit CI stieg Tanz herab von der Bühne, heraus aus den Tanzakademien, hinein in Kulturzentren, Parks, Turnhallen. Die Protagonist*innen der Contact Improvisation begannen durch die USA zu reisen und zu unterrichten. Das war ein entscheidender Schritt, die Herangehensweise musste sich ändern. Die Videos der Anfänge zeigen grobe Spring- und Fallexperimente – schlichtweg zu gefährlich für Ungeübte.

Zum einen mussten vorbereitende Übungen her, ein technisches Repertoire, das Menschen überhaupt erst in die Lage versetzte, Bewegung im Kontakt mit eine*r Partner*in zu improvisieren. Einiges konnte von asiatischen Kampfkünsten entliehen werden, insbesondere vom Aikido- und zwar sowohl was körperliche Fertigkeiten anbelangt (Weichheit, Durchlässigkeit, Fallen, Abrollen), als auch die Geisteshaltung (Achtsamkeit, Gegenwärtigkeit, Fokus), was ja ohnehin nicht zu trennen ist. Aber es entwickelten sich auch ganz eigene Übungen, und die ersten Prinzipien wurden benannt z.B. der  „rolling point of contact“.

Zum anderen entbrannte eine Diskussion darüber, ob es nicht wichtig sei, ein Trademark einzuführen, um für Sicherheit zu sorgen und einen Überblick zu behalten, wer unterrichten darf und kann – aber zum Glück hatte niemand Lust, die Rolle der Contact-Polizei einzunehmen. Weil sich die Pionier*innen damals also gegen ein Trademark entschieden, operiert diese Bewegungskultur heute nach der Logik eines Open Source Systems: alle, die sie bewusst praktizieren, tragen durch ihr Tun zu ihrer Definition und Entwicklung bei. Nach annähernd einem halben Jahrhundert spannt sich inzwischen ein dezentrales und selbstorganisiertes Netzwerk über die ganze Welt. Es gibt in fast allen Ländern der Erde Menschen, die Contact tanzen. Sie treffen sich zu Workshops, Festivals und Konferenzen, sie tanzen, feiern und forschen gemeinsam, erfinden neue Formate und Strukturen und lassen eine globale Parallelkultur entstehen.

Es gibt nach wie vor weder eine zentrale Organisation, noch einen rechtlichen Träger oder einen akkreditierten Abschluss, geschweige denn ein Curriculum oder eine Einigung auf Techniken, die man beherrschen muss, um dabei sein oder unterrichten zu dürfen. Tatsächlich kann jeder Mensch CI praktizieren – auf die ihm oder ihr mögliche, angemessene und angenehme Art und Weise. Das gilt auch für Menschen mit gravierenden körperlichen Beeinträchtigungen, weil es eben wirklich weder Bedingungen noch Voraussetzungen gibt und CI auf jedem erdenklichen technischen „Niveau“ getanzt werden kann: hochakrobatisch und dynamisch, fliegend, springend, fallend, die Grenzen des physikalisch Machbaren auslotend oder scheinbar überschreitend, aber eben auch so minimalistisch, dass von außen Bewegung kaum sichtbar wird, weil es eher eine energetische Begegnung ist. Die Entscheidung gegen eine Reglementierung durch ein Trademark bedeutete, dass die Pionier*innen die Kontrolle über das abgaben, was sie selber entwickelt hatten – ein Akt großen Vertrauens in die Tragfähigkeit des Prinzips Contact Improvisation.

Die Contacter*innen der ersten Generation konnten der Versuchung widerstehen, den Freiraum, den sie sich errungen hatten, für die „Unwissenden“ enger zu fassen, weniger frei zu gestalten. Sie sind dabei das große Risiko eingegangen, dass dieser Raum, der ihnen so unendlich wertvoll ist, verformt, verflacht, verkannt, ja missbraucht werden könnte. Und die Gefahr besteht natürlich. Doch viel stärker und tragfähiger ist die Kraft, die frei wird, wenn wir Tanzenden erleben, dass jede*r Einzelne von uns mitgestaltet – dann werden wir Verantwortung für eben diesen Raum übernehmen.

Ich glaube, dies ist ein Vorgang von großer transformatorischer Kraft. Genau solche Orte von kollektiver Verantwortung und individuellem Beitragen braucht unsere Welt jetzt.

Bei all dem erscheint es nicht besonders verwunderlich, dass Definitionsversuche mit dem Anspruch einer umfassenden Gültigkeit zwar immer wieder unternommen, aber genauso oft verworfen wurden. Einen Konsens gab es vor einigen Jahren hierüber: Es entsteht im Laufe der Jahre ein ständig dichter werdender Rahmen von sinnvollen Prinzipien und hilfreichen Techniken (körperlichen und mentalen), die man lernen, üben und weiterentwickeln kann. Sie bilden eine Art Rahmen. Das was CI ausmacht, ist aber der leere Raum, den dieser Rahmen umschließt. Der Raum des Nichtwissens und der Absichtslosigkeit, der puren Präsenz, Wachheit und Authentizität, der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmen und Agieren. Dieser Raum, in dem sich Improvisation und Begegnung im besten Falle in ihrer ganzen Unberechenbarkeit und Magie entfalten können. Und das ist die Kraft, die ich der Welt so wünsche, der Grund, warum ich Contact für politisch halte.

Contact Improvisation als Beitrag zum Wandel

Der Wandel, von dem wir alle wissen, dass er ansteht, ist in erster Linie ein Bewusstseinswandel. Im Kern lautet die Frage wohl: Gelingt es uns, als Menschheit in unser volles Potenzial hinein zu wachsen, bevor wir uns unserer Lebensgrundlage berauben? Ich kann nicht formulieren, was genau dieses volle Potenzial ist, aber ich meine, bisweilen auf einer fokussierten Jam eine leise Ahnung davon zu bekommen. Ich bin mir recht sicher, es hat damit zu tun, dass jede*r Einzelne in Eigenverantwortung und tiefer Verbundenheit mit allen und allem ihr oder sein Ureigenes zum Wohle des Großen und Ganzen einbringt, das dann mehr wird als die Summe seiner Teile.

Können wir tanzend die Welt bewegen? Ja, das glaube ich. In ihren Wurzeln ist die Contact Improvisation zutiefst politisch. Es ging den Pionier*innen um Selbstermächtigung, Eigenverantwortung und ein radikales Hinterfragen des scheinbar Selbstverständlichen. Und genau das erleben wir beim Tanzen: Wenn ich meine Wahrnehmung schule, befähigt mich das, selbst zu gestalten anstatt Vorgegebenes zu reproduzieren.
Wenn ich mich anderen in meiner ganz eigenen Eigenart zumute, finde ich meinen Platz im großen Gefüge.
Wenn ich tiefe Verbundenheit zulasse, erlebe ich Eigenständigkeit.
Wenn ich die Kontrolle aufgebe und nicht mehr um meine Sicherheit bange, bin ich frei.
Wenn ich mich ganz dem gegenwärtigen Moment anvertraue, öffnet sich sich der Blick auf einen Möglichkeitsraum, den ich kaum denkend oder planend erschaffen kann.

Die Erfahrungen, die wir mit der Contact Improvisation machen, können meiner Einschätzung nach eine wichtige Grundlage darstellen, um den Blick zu weiten für Lösungen, die wir als Gesellschaft zu finden haben auf die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit. Auf einer Jam bekommen wir eine Idee davon, in welcher freudvollen Leichtigkeit und in welchem Vertrauen auf die Selbstorganisation von Systemen menschliches Miteinander möglich ist. Und das lässt sich auf so unterschiedliche Bereiche übertragen wie Bildung und Umgang mit Kindern, Demokratieforschung, Arbeits- und Organisationsprozesse, Vielfalt und Inklusion, Kommunikation, neue Formen des Wirtschaftens.

„Das Wunder ist eine Frage der Übung“. Also beginnen wir mit dem Üben!

Mehr zu Heike Pourian auf ihrer Website.

Arbeitsfelder

„Die Orientierung zu verlieren ist wahrscheinlich der erste Schritt, um neue Systeme zu finden. […] Das Vertraute, das so verwurzelt ist in unseren Nervensystemen und Gehirnen, zu verlassen, erfordert Disziplin. […] Wir versuchen nicht nur, die bekannten Systeme hinter uns zu lassen, sondern auch zu erkennen, wie wir uns an diese Systeme angepasst haben. Es ist die Gewohnheit, uns anzupassen, die dazu führt, dass wir das System fortwährend reproduzieren.“
Steve Paxton

Contact Improvisation konnte sich nur entwickeln, weil Tänzer*innen das Risiko eingingen, alles Selbstverständliche über den Haufen zu werfen. Dieser Mut hat etwas erstaunlich Neues hervorgebracht: eine Kultur, sich miteinander zu bewegen, die in bemerkenswertem Kontrast zu unseren alltäglichen Begegnungsräumen steht, und uns folglich vor große Herausforderungen stellt.

Wie gehen wir mit diesem so Andersartigen um, welchen angemessenen Rahmen gibt es zum Lernen und Praktizieren?

Es braucht auf der einen Seite Formate, die offen genug sind, um ein Neuschöpfen immer wieder zu ermöglichen. Auf der anderen Seite ist auch ein klarer und geschützter Raum vonnöten – gemeinsame Vereinbarungen und „Disziplin“, denn nur mit etwas Distanz zum Selbstverständlichen, in Auseinandersetzung mit Urteilen und Scham erlangen wir Freiheit.

 

Vielen Dank an Heike Pourian für diese Texte. Sie stammen von der Website https://beruehrbarewelt.de/